John Henry Days: RomanColson Whitehead
Gebundene Ausgabe
Talcott ist ein ziemlich verschlafenes Nest in West Virginia, in dem heute so gut wie gar nichts los ist. Bis der Fremdenverkehrsverband sich an die glorreichen Zeiten der Stadt im 19. Jahrhundert erinnert, als Talcott ein wichtiges Zentrum des Eisenbahnbooms in Amerika war. Damals wurde die Verbindungslinie von West Virginia an die Ostküste, die berühmte " Connection", gebaut, wobei etliche Tunnels millimeterweise von Menschenhand durch die Berge getrieben werden mussten. Einer der schwarzen Bohrhauer, die diese unmenschliche Arbeit verrichten mussten, war der legendäre John Henry. Von ihm geht die Sage, er habe einen Wettstreit im Schienenlegen gegen einen Dampfhammer gewonnen, was er allerdings am Ende mit seinem Leben bezahlte. Ihm zu Ehren, und um den Ruf der Gegend wieder ein bisschen aufzumöbeln, soll anlässlich der John-Henry-Festtage eine Sondermarke des U S Postal Service vorgestellt werden. < P> Zu der Horde von Medienvertretern, die nach Talcott geladen werden, um dieses Ereignis angemessen zu würdigen, gehört auch J. Sutter, ein typischer Vertreter des schreibenden Schnorrertums: ein abgebrühter Spesenritter, dessen journalistisches Interesse an John Henry oder Talcott nicht weiter reicht als die Werbegeschenke der Auftraggeber und die saftigen Rippchen vom Gratisbuffet. Der einzige Ergeiz, den dieser Reporter von der traurigen Gestalt überhaupt noch entwickeln kann, ist ein neuer Schnorr-Rekord: J. Sutter will sich umsonst durchfressen, und zwar so lang es irgendwie geht. Ungefährlich ist das nicht, denn Sutters Vorgänger, der Ähnliches versuchte, verlor dabei erst seine Akkreditierung und schließlich den Verstand. < P> Aus dem eigenwilligen Kontrast zwischen der schwarzen Heldenfigur John Henry, dessen Mythos in Amerika jedes Schulkind kennt, und seinem ganz und gar unheldenhaften Nachfahren J. Sutter, entwickelt Colson Whitehead ein fassettenreiches Panorama amerikanischer Befindlichkeiten, in dessen Zentrum die unstillbare fatale Sucht nach dem Besonderen und Nichtalltäglichen, nach dem Rekord und der Sensation ständig zu spüren ist. Dabei geht es letztlich immer auch um die Hoffnung, die Banalität der eigenen Existenz überwinden zu können. Zugleich liest sich Whiteheads intelligenter und variantenreich erzählter Roman als pointierte und witzige Satire der amerikanischen Medien- und Spektakelkultur, die längst nicht mehr nur in den U S A zu finden ist. Ließ schon der eigenwillige Erstling des jungen afroamerikanischen Autors, The Intutionist, einiges von dessen kreativer Fantasie und literarischem Potenzial erkennen, so erweist sich Colson Whitehead mit John Henry Days endgültig als ambitionierter Erzähler mit einem beachtlichen stilistischen Repertoire, dem man auch angesichts des Unterhaltungswertes seiner Prosa einige Übertreibungen gern verzeiht. < I>-Peter Schneck
|