"Maikäfer, flieg!": Hitlers Krieg und die KinderNicholas Stargardt
Gebundene Ausgabe
Was speziell den Kindern im Zweiten Weltkrieg angetan wurde, ist von der historischen Forschung bislang nur ausschnittsweise untersucht worden. Nicholas Stargardt hat dem Thema die erste umfassende Monographie gewidmet. Ein bestürzendes Buch, das erahnen lässt, wie tief die Traumata des Krieges sich in die Seelen derer eingeprägt haben müssen, die als Kind auf die eine oder andere Weise in den Strudel der Gewalt hineingezogen wurden und danach mit den Bildern und Gefühlen, die dies alles in ihnen hinterlassen hat, weiterleben mussten. Opfer der N S-Herrschaft wurden Kinder bereits vor dem Krieg, als die Nazis sich daran machten, die Nachkommenschaft der Deutschen durch das Aussortieren angeblich "lebensunwerten Lebens" entsprechend ihres rassenideologischen Selbstverständnisses zu vervollkommnen. Kinder mit einem genetischen Defekt wie dem Down-Syndrom oder einer angeborenen Geistesschwäche sollten in der heraufziehenden Welt des deutschen Herrenmenschen keinen Platz mehr haben. Und auch als sich diese Welt später verdunkelte und sich die Unabwendbarkeit der militärischen Niederlage abzeichnete, warfen die Nazis als ihre letzten Opfer abermals Kinder - diesmal die gesunden - in den Rachen des von ihnen entfesselten totalen Krieges. Noch bestürzender ist nur, dass sich diese Kinder so zahlreich freiwillig vor den Karren des letzten Gefechts für die vermeintlich gute Sache spannen ließen: Im Nationalsozialismus aufgewachsen, kannten sie keine andere Realität als die, die ihnen all die Jahre von den Nazis vorgespiegelt worden war. Von Beginn an Opfer der Nazi-Barbarei waren Kinder und ihre Seelen freilich zunächst aber vor allem in den Gebieten, die von den Deutschen vorübergehend erobert worden waren. Opfer, die sich, wie man aus Stargardts bestürzender Studie erfährt, oftmals erschreckend gut mit noch so aussichtslosen Situationen zu arrangieren verstanden. So spielten Kinder im Warschauer Ghetto Verhörszenen und Exekutionen nach, in denen die Älteren und Stärkeren die Nazi-Rollen übernahmen. Nicholas Stargardt hat mit Maikäfer flieg! eine längst überfällige Untersuchung vorgelegt, die große Aufmerksamkeit verdient. Dies nicht zuletzt, weil sie uns, die wir Kriege nur aus der Ferne zu betrachten gewohnt sind und wohl auch nur auf Grund unserer Ferne zu den tatsächlichen Ereignissen in der Weise über sie urteilen, wie wir über sie urteilen, zumindest eine Ahnung davon vermittelt, was Krieg wirklich bedeutet. - Andreas Vierecke
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